Jüdische Motive im Exilwerk Anna Seghers'

Jüdische Motive im Exilwerk Anna Seghers


Der Roman Transit und die Erzaehlungen Ausflug der toten Maedchen und Post ins gelobte Land






"Ich wußte, daß er erst jetzt, in dieser Minute, an diesem Tisch, sein vergangenes Leben abschloß. Denn abgeschlossen ist, was erzählt wird. Erst dann hat er diese Wüste für immer durchquert, wenn er seine Fahrt erzählt hat." (Transit S. 205/206)


1. Einleitung

Anna Seghers, geboren 1900 in Mainz als Netty Reiling, Tochter strenggläubiger jüdischer Eltern, hatte ihre jüdische Identität schon früh hinter sich gelassen geglaubt. Mit 26 Jahren trat sie aus der jüdischen Gemeinde aus und wurde1928 Mitglied der KPD. Sie entschied sich gegen das bürgerliche Leben ihrer Eltern und damit auch gegen ihr Judentum. Zehn Jahre später wurde sie von ihrer jüdischen Vergangenheit eingeholt. Bereits 1933 war Anna Seghers aus Deutschland geflohen. Wie viele andere Kommunisten war sie nach dem Reichstagsbrand kurzzeitig verhaftet worden. Ihre Flucht führte sie über die Schweiz nach Frankreich, in die Nähe von Paris, wo sie die nächsten sieben Jahre ihres Lebens verbringen sollte. Wenig ist bekannt über das, was Anna Seghers erlebte in dieser Zeit. Sie hat es immer vermieden, autobiographische Angaben zu machen. „Ihre Bücher sollten im Mittelpunkt stehen, nicht ihr Leben. Und wirklich sind die Taten bei einem Schriftsteller ja seine Werke, wohingegen sein Leben zumeist recht ereignisarm verläuft.“ Das Leben der Anna Seghers verlief alles andere als ereignisarm, was nicht zuletzt auch ihrer jüdischen Herkunft geschuldet war. Die Kommunistin und Jüdin verbrachte 15 Jahre ihres Lebens im Exil, zunächst in Frankreich, dann in Mexiko. Für die Schriftstellerin waren diese 15 Jahre ihre bedeutendste Schaffensperiode, auch Das siebte Kreuz (1939), der Roman, der ihr Weltruhm brachte, entstand in dieser Zeit.
Inwieweit jedoch beeinflusste Seghers’ jüdische Identität ihr Schreiben in einer Zeit, die geprägt war von Verfolgung und Ermordung Millionen europäischer Juden? Die Frage nach jüdischen Spuren im Werk Anna Seghers’ ist erst in den letzten Jahren zu einem Thema der Seghers-Forschung geworden. Kritiker wie Haller-Nevermann werfen ihr vor, ihre eigene jüdische Identität zu marginalisieren und so den Holocaust zu verharmlosen.

Für die eigene jüdische Herkunft und die mit ihr verbundenen Personen wird eine seltsame Leugnung, ja Tabuisierung erkennbar: Die Verfolgung und Bedrohung der Juden wird nicht offen thematisiert, sondern vielmehr marginalisiert. Über das Ideologische gelenkt, erscheint das jüdische Schicksal reduziert auf Zwischenmenschliches.


Es ist wahr, dass das Schicksal der Juden in den meisten Werken Anna Seghers’ keine zentrale Rolle einnimmt, obwohl es, wie diese Arbeit zeigen wird, auch solche Werke gibt. Nichtsdestotrotz sind jüdische Themen und Figuren in allen bedeutenden Romanen und Erzählungen der 30er und frühen 40er Jahre zu finden. Von einer Marginalisierung ihrer jüdischen Identität kann bei Anna Seghers deshalb, zumindest was die Exilzeit betrifft, nicht die Rede sein. Sie tritt zweifellos zurück hinter eine vom Ideal des Kommunismus geprägte Weltanschauung.

Natürlich nimmt – wie die Verfasserin [Haller-Nevermann] zu Recht feststellt – das Thema der politischen Verfolgung einen zentralen Rang ein. Dies hat spätestens seit den frühen Romanen wie Der Kopflohn, Der Weg durch den Februar und Die Rettung mit Seghers operativer Zielsetzung zu tun, „die Welt schreibend zu verändern“ oder, wie sie später sagt, „bei der Zerstörung des Faschismus und bei der Befreiung der Länder und der Gehirne mitzuschreiben“.


Seghers konnte sich nicht verschließen gegenüber dem, was den Juden in Europa, auch ihrer eigenen Mutter, angetan wurde, und sie hat es auch nicht getan. Hier sollen exemplarisch drei ihrer Exilwerke auf jüdische Themen und Figuren hin untersucht werden: der Roman Transit (1941) und die Erzählungen Ausflug der toten Mädchen (1943) und Post ins gelobte Land (1945).

2. Transit

Transit, erschienen 1944 (deutsch 1948), ist sicher Seghers’ persönlichster Roman. In Briefe an Leser schrieb sie: „Ich habe fast alles, was darin vorkommt, miterlebt. Ich habe aber (...) niemals etwas so unmittelbar im Erlebnis steckende geschrieben. Das Buch ist in Marseille entstanden, in den erwähnten Cafes, wahrscheinlich sogar, wenn ich zu lange warten musste, in Wartezimmern auf Konsulaten, dann auf Schiffen, auch interniert auf Inseln, in Ellis Island in USA, der Schluß in Mexiko.“
Transit ist ein Roman über das Flüchtlingsdasein, über das Leben in einem Schwebezustand, einem Zwischenreich, über die Sehnsucht nach Heimat, nach Bleiben, und über die nicht enden wollende Jagd nach immer neuen Papieren, die die Flucht ermöglichen sollen. Seghers entwirft hier ihr Bild der Hölle, ein anhaltendes Warten auf nichts.

Doch glauben sie ja nicht, mein Sohn, daß damit ihr Transit schon sicher sei, und selbst, wenn es sicher wäre! Inzwischen ist so viel Zeit vergangen, daß wieder das erste, das Hauptziel entschwunden ist. Dein Visum ist abgelaufen, und wie auch das Transit notwendig war, es ist wieder gar nichts ohne das Visum, und so immer weiter, immer weiter, immer weiter. (Transit, S. 45/46)


Tatsächlich durchbricht nahezu keine der Flüchtlingsgestalten diesen ewigen Kreislauf. Selbst diejenigen, denen es letztendlich doch gelingt, sich alle nötigen Papiere für die Ausreise zu erkämpfen, sterben entweder noch in Marseille, wie der Kapellmeister (vgl. Transit, S. 128), oder auf dem Schiff, auf das sie gestiegen waren, um vor dem Tod zu flüchten, wie Marie und der Arzt (vgl. Transit, S. 267). Wer in den Sog der Flüchtlingswelt gerät, befindet sich auf der Schwelle zum Totenreich, oder, wie es in Transit heißt: „aus allen Ländern verjagte Menschenhaufen, die schließlich am Meer ankamen, wo sie sich auf die Schiffe warfen, um neue Länder zu entdecken, aus denen sie wieder verjagt wurden; immer alle auf der Flucht vor dem Tod, in den Tod.“ (S. 85).
Es ist auffällig, dass jüdische Figuren innerhalb dieses Flüchtlingsstroms eine entscheidende Rolle einnehmen. Nahezu alle Flüchtlinge, mit denen der Hauptheld Seidler sich während seines Aufenthaltes in Marseille näher beschäftigt, sind direkt oder indirekt als Juden zu erkennen. Hiervon ausgenommen sind eigentlich nur Paulchen, Heinz (der Sozialist) und Marie, wobei der Grund für Maries Flucht völlig ausgespart bleibt, sie ist weder Sozialistin, noch wird sie als Jüdin gekennzeichnet – warum also muss sie fliehen? Auf diese Frage wird im Verlauf der Arbeit noch einmal zurückzukommen sein.
Sehen wir uns zunächst die einzelnen jüdischen Figuren genauer an. Da wäre zunächst der alte Kapellmeister. Obwohl er an keiner Stelle im Roman explizit als Jude bezeichnet wird, lassen sich verschiedene Charakteristika finden, die auf seine jüdische Herkunft hinweisen.

Ein kleiner alter Mann setzte sich zu mir. Er trug einen Rock von der Sorte, die längst bei jedem anderen in Fetzen gegangen wäre, hier aber zufällig an einen Besitzer geraten war, der ihn durch Würde und Sorgfalt nicht untergehen ließ. Und wie der Rock, so der Mann. Er hätte längst im Grab liegen dürfen, doch sein Gesicht war fest und ernst. [...]
Er sei Kapellmeister in Prag gewesen, jetzt habe man ihm eine Stelle verschafft bei einer berühmten Kapelle in Carácas. (Transit, S. 43)


Die Kleidung, Herkunft, der Beruf und das biblische Alter des Mannes verweisen auf seine jüdische Identität. Ein alter Kapellmeister aus Prag – warum sollte er vor den Nazis fliehen müssen, wenn nicht, weil er Jude ist. Hierfür spricht auch das, was er Seidler über seine Söhne erzählt.

Ich fragte ihn, ob er Söhne habe; er erwiderte, ja und nein, sein ältester Sohn sei in Polen verschollen, sein zweiter in England, sein dritter in Prag.


Die Tatsache, dass all seine Söhne offensichtlich ebenfalls von den Deutschen verfolgt werden, dass er nicht weiß, was aus ihnen geworden ist, spricht dafür, dass es sich hier um eine jüdische Familie handelt. Im Laufe des Romans wird der Kapellmeister immer wieder mit dem Tod in Verbindung gebracht: „Er trug eine dunkle Sonnenbrille, die seine Totenkopf-Augenhöhlen bodenlos machten, ...“ (S. 66); „Das ist eine andere Abfahrt als die meines Grazer Totenschädels, der noch einmal den Taktstock schwingen will.“ (S. 80); „Ich traf auch hier wieder meinen kleinen Kapellmeister. Seine Augen glänzten im Fieber, als hätte man in einem Schädel ein Licht angesteckt.“ (S. 110). Mir ist nicht bekannt, inwieweit Seghers über die Zustände in den polnischen Ghettos informiert war; es schweben einem jedoch unbestritten die Bilder von jüdischen Menschen aus den Ghettos vor Augen, wenn man Seghers’ Beschreibungen des Kapellmeisters liest.
Seghers distanziert sich von der Figur des Kapellmeisters – er ist ein Imstichlasser. Um die Kapellmeisterstelle in Caracas annehmen zu können, will er Europa, und damit seine Söhne, verlassen, er könne nicht länger auf sie warten, sagt er. Das Imstichlasser-Thema ist eines der zentralen Motive in Transit, immer wieder werden Menschen danach beurteilt, ob sie ihren engsten Verwandten und Freunden die Treue halten oder es vorziehen, sich, wie der Kapellmeister, aus dem Staub zu machen. Betrachtet man die jüdischen Figuren im Roman, so ist der Kapellmeister jedoch der einzige, der die Rolle des Imstichlassers erfüllt. Es wäre deshalb ungerechtfertigt, anzunehmen, dass Seghers sich in der Figur des Kapellmeisters von ihrem eigenen Judentum distanziert; im Gegenteil werden gerade jüdische Figuren zum Symbol für Treue und Zusammenhalt.
Vor allem anhand einer großen jüdischen Familie wird das Bild des Sich-nicht-im-Stich-lassens entworfen. Ihr Jüdischsein wird zunächst nur am Rande erwähnt:

Die Hunde erschreckten hier oben ein halbes Dutzend kleiner jüdischer Kinder. Die drängten sich um ihre Eltern und ihre Großmutter, eine gelbe, starre Frau, die so alt war, als sei sie nicht durch Hitler, sondern durch das Edikt der Kaiserin Maria Theresia aus Wien vertrieben worden. (Transit, S. 124)


Erst sehr viel später im Roman wird die tragische Geschichte der, hier nur flüchtig erwähnten, jüdischen Familie fortgesetzt.

Wie ich bald gewahr wurde, gehörten all diese wartenden Menschen, etliche Frauen, Männer, Kinder, deren ich einige von dem letzten Wartetag wiedererkannte, sowie auch das alte, in sich versunkene Weib der gleichen Familie an, die aber heute hier vollzählig antrat. (Transit, S. 191)


All diese Menschen waren auf das Konsulat gekommen, um ihrer Mutter, Großmutter, Urgroßmutter beizustehen, die als einziges Mitglied dieser riesigen Familie ihr Visum nicht bewilligt bekommen hatte, da sie zu alt war und innerhalb der nächsten zwei Monate ohnehin sterben würde. Die Familie entschließt sich nun geschlossen und in dem Bewusstsein, dass all ihre Papiere verfallen würden, bei der Alten zu bleiben, bis sie gestorben sein würde.

Alle zogen ab, indem sie der Alten die Treppe hinunter halfen, sich gegenseitig zur Vorsicht ermahnend, traurig, verstört, doch ganz ohne Reue. (Transit, S. 193)


Zu Recht weist Haller-Nevermann darauf hin, dass diese Passage als Requiem der Autorin für ihre eigene Mutter gelesen werden kann, wenn sie jedoch noch im selben Satz davon spricht, dass Seghers ihrer Mutter die hier dargestellte Solidarität verweigert hätte, geht Haller-Nevermann mit ihrer Kritik entschieden zu weit. Wie bereits erwähnt, hatte Seghers Deutschland 1933 aus politischen Gründen verlassen, ihre Mutter war zu dieser Zeit noch nicht akut bedroht, auch wenn damals bereits abzusehen war, in welche Richtung sich der Antisemitismus in Deutschland entwickeln würde. Von Mexiko aus hat die Autorin hingegen erwiesener Maßen alles versucht, um der Mutter die nötigen Papiere für die Ausreise zu verschaffen. Dass Seghers selbst sich, wie viele andere Juden, die den Holocaust überlebt haben, zu Unrecht Vorwürfe macht, sich als eine „Imstichlasserin“ sieht, ist in Hinblick auf diese und andere Passagen des Romans sicher anzunehmen, lässt sich jedoch nicht wirklich nachweisen, denn auch hier fehlen dahingehend interpretierbare Äußerungen der Autorin.
Die vielleicht interessanteste jüdische Figur des Romans ist der Fremdenlegionär, Seidlers Zimmernachbar in dem kleinen Marseiller Hotel. Er wird, im Gegensatz zu einigen anderen jüdischen Transitären, explizit als Jude gekennzeichnet: „’Bei mir ist es etwas anderes’, sagte er, ’ich bin Jude. Für mich kam die Großmut der Volksgemeinschaft erst gar nicht in Betracht.’“. (Transit, S. 105)
In der Figur des Fremdenlegionärs stellt Seghers symbolisch den Leidensweg des jüdischen Volkes dar. Es handelt sich hier um eine der zentralen Stellen im Roman, denn die Erzählungen des Fremdenlegionärs werden immer wieder unterbrochen von Seidlers Beobachtungen Maries, die an diesem Punkt die Suche nach dem Schriftsteller Weidel, ein tragendes Motiv des Romans, aufgibt. Die Geschichte des Fremdenlegionärs und Seidlers Gedanken über Marie werden so miteinander verflochten, dass beide eine Einheit bilden. Hierdurch wird einerseits die Bedeutsamkeit der Erzählungen des jüdischen Legionärs, und damit der Leidensgeschichte des jüdischen Volkes, hervorgehoben, andererseits wird Marie und deren Suche aufs Engste mit dieser jüdischen Geschichte verknüpft.


Zieht man dies in Betracht, könnte man annehmen, dass es sich auch bei Marie, einer der Hauptfiguren des Romans, um eine Jüdin handelt. Für diese Annahme spräche auch das in Marie entworfene Ahasver-Motiv. Wie der Jude Ahasver in der Volkslegende ist auch Marie ständig auf der Suche, ständig auf Wanderschaft, kommt nicht zur Ruhe, bis der Mann, auf den sie wartet, zurückkehren würde. Denn auch die Aufgabe ihrer Suche an diesem Punkt der Handlung ist letztendlich nur ein Sichfügen in den Zufall.

Trotzdem vollzog sich der Abbruch der Suche ganz anders, als ich erwartet hatte. Es war nichts Jähes darin, kein wildes Wennschon-Dennschon. Es war ein stiller Entschluß, dem Zufall zu gehorchen. Doch schien der Zufall sich selbst zu wundern, wie sie dasaß mit gesenktem Kopf und gesenkten Augen, in einer Ergebenheit, die ihm, dem Zufall, noch nie widerfahren war und die er nur dem Umstand verdankte, dass er etwas anderem verteufelt ähnlich sah. (Transit, S. 205)


Und wirklich erwartet sie noch, als sie letztendlich mit dem Arzt zusammen das Schiff besteigt, das beide in den Tod bringen wird, ihren Mann wiederzutreffen. Es gibt jedoch im Übrigen keine konkreten Hinweise auf Maries jüdische Herkunft, weshalb das eben Ausgeführte als hypothetisch betrachtet werden muss. Nichtsdestotrotz bleibt es verwunderlich, dass Marie überhaupt fliehen muss, würde man annehmen, dass sie weder Jüdin noch Sozialistin sei, wobei es für die letztere Annahme noch weniger Anhaltspunkte gibt.
Zumindest bleibt die Feststellung, dass die Verbindung der Geschichte des Fremdenlegionärs mit der Maries dem Motiv des jüdischen Leidensweges einen hohen Stellenwert einräumt. Wie das jüdische Volk müssen der Fremdenlegionär und seine Mitlegionäre immer härtere Prüfungen bestehen; „ohne Rast und Ruh“ ist das Motto der Legion, ohne Rast und Ruh ist auch das jüdische Volk ewig auf der Wanderschaft, immer wieder von Verfolgung und Vertreibung geschlagen; und schließlich führt der Fremdenlegionär seine Kameraden durch die Wüste wie einst Moses das Volk Israel:

Ich weiß nicht mehr, wie lange wir in die Wüste hineinzogen. Mir dünkte es vierzig Jahre lang wie in der Bibel. [...]
Jetzt aber – in der Wüste -, ich schwöre Ihnen, ich merkte gar nicht, daß ich auf einmal anfing, tapfer zu sein. Ich fing nur an, meinen Mittransitären ein wenig Mut zuzusprechen. Besonders den jüngeren. Ich redete ihnen ein, es gebe da irgendein Gesetz für die Menschen, das gar nichts mit der verdammten Legion zu tun habe, es gebe da irgendein Gesetz, man müsse sich bis zum Tod anständig aufführen. Und diese Einbildung vermischte sich immer mit irgendeinem Versprechen auf Wasser, auf eine entfernte Ankunft. (Transit, S. 206/207)


Drei weitere jüdische Figuren sollen hier nur erwähnt werden, um das Bild zu vervollständigen. Von dem Arzt, mit dem Marie reist, wird gesagt, er sei „ein ehemals berühmter Arzt, der frühere Leiter des Dortmunder Krankenhauses“ (Transit, S. 79) – ein eindeutiger Hinweis auf sein Jüdischsein, nach dem Gesetz über den Erhalt des Berufsbeamtentums ereilte alle jüdischen Ärzte das gleiche Schicksal.
Eindeutig als Jude zu erkennen ist auch der kahlköpfige Mittransitär: „Ich bin in einer Gegend geboren, die vor dem Weltkrieg zu Russland gehörte, die nach dem Weltkrieg polnisch wurde. Mein Vater war Tierarzt. Er war tüchtig in seinem Fach. Obwohl er Jude war, bekam er eine halbamtliche Stelle auf einem Versuchsgut.“ (S. 197)
Schließlich ist auch der Schriftsteller Weidel vermutlich eine jüdische Figur. Zumindest besteht eine unverkennbare Parallele zu dem jüdischen Schriftsteller Ernst Weiß, der sich wie Weidel in Paris umgebracht hatte und von dessen Schicksal Seghers tief berührt war.

Abschließend lässt sich feststellen, dass jüdische Figuren innerhalb der von Seghers entworfenen Flüchtlingswelt einen bedeutenden Raum einnehmen, einen bedeutenderen sogar, als die aus politischen Gründen verfolgten Personen. Hier wäre eigentlich nur Heinz zu nennen, der zugegebener Maßen der einzige ist, dem die Flucht nach Übersee gelingt. Dies entspricht Seghers’ Weltbild, ihrer Zukunftsvision – letzten Endes ist sie eben doch in erster Linie Sozialistin. Von einer Verharmlosung der Situation der Juden kann jedoch nicht die Rede sein. Alle hier besprochenen jüdischen Figuren sterben entweder noch im Handlungsverlauf des Romans oder gehen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in den Tod - und ich gebe Haller-Nevermann Unrecht, wenn sie über den kahlköpfigen Mittransitär sagt:

Wenn man nicht unterstellen will, dass dies eine bewusste Entscheidung für eine Heimreise im Sinne einer Reise in den Tod bedeutet – und hierfür spricht eigentlich nichts im Text - , muß man davon ausgehen, dass sich der Mittransitär (und in ihm wohl auch die Autorin) nicht wirklich bewusst ist, was einen Juden „erwartet“, der 1941 nach Deutschland zurückkehrt.


Vieles spricht dafür, dass es sich hier um eine bewusste Entscheidung zur Reise in den Tod handelt. Die Aussage des Mittransitärs - „Ich will an meinen Geburtsort zurück“ – entspricht der jüdischen Vorstellung von der Rückkehr ins gelobte Land, um dort zu sterben und begraben zu werden, die auch in der Erzählung Post ins gelobte Land wieder aufgegriffen wird. Weiterhin wird die Entscheidung zur Heimreise direkt mit dem Tod in Verbindung gebracht durch das „Märchen von dem toten Mann“, das der Mittransitär Seidler erzählt. Und wenn der Mittransitär am Ende seiner Ausführungen noch einmal, wie bekräftigend, sagt, „ich habe jetzt genug von allem“, dann impliziert das ein Resignieren vor einer Situation, die, wie er sagt, höllischer nicht sein kann – ein Resignieren, dass auch den Tod als weniger höllisch begreift.
Der Roman Transit ist sicher kein Roman über das Judentum und über die Juden, er ist aber ein Roman, in dem jüdische Figuren und jüdische Motive einen bedeutenden Platz einnehmen. Das Motiv der ewigen Wanderschaft ist sogar das tragende Motiv des Romans; und obwohl Seghers es ausweitet auf Flüchtlinge im Allgemeinen, bleibt es doch ein vorrangig jüdisches Motiv. Ebenso kann das Thema der Heimkehr, wie es vor allem an den beiden jüdischen Figuren des kahlköpfigen Mittransitärs und des Fremdenlegionärs entworfen wird, als ein jüdisches Motiv gedeutet werden.
Seghers hat in Transit dem Schicksal der europäischen Juden einen bedeutenden Platz eingeräumt, obwohl, und das muss man sich immer vor Augen halten, sie sich bereits seit über zehn Jahren dem Judentum nicht mehr zugehörig fühlte. Die schrecklichen Dinge, die ihren jüdischen Verwandten und Freunden zustießen, bewegten sie dazu, sich noch einmal mit ihrem eigenen Jüdischsein auseinander zu setzen. Dies wird vor allem deutlich in den beiden Erzählungen Ausflug der toten Mädchen und Post ins gelobte Land, auf die im Folgenden näher eingegangen werden soll.


3. Der Ausflug der toten Mädchen

Die Erzählung Der Ausflug der toten Mädchen, Anna Seghers’ berühmteste Erzählung, entstand 1943 in Mexiko, kurz nachdem Seghers von der Deportation ihrer Mutter in das polnische Konzentrationslager Piaski erfahren hatte. Wie Anthony Grenville feststellt, muss dieser Text deshalb zumindest teilweise als Reaktion auf die systematische Ausrottung der europäischen Juden gelesen werden.

The importance of the real historical dimension to „Ausflug der toten Mädchen“, and of its Jewish dimension in particular, becomes yet clearer if one bears in mind that it was in 1943, shortly before its composition, that Anna Seghers learnt of the death of her mother, Hedwig Reiling, who had been deported to the camp of Piaski, near Majdanek, on 20 March 1942. The story must therefore be read in part as a response to the Jewish genocide.


Der Ausflug der toten Mädchen ist zweifelsohne Seghers’ Erzählung mit den meisten autobiographischen Komponenten. Die Autorin selbst nimmt hier die Rolle der Hauptfigur ein, ein Unterschied zu Transit, der klar macht, dass es hier fast ausschließlich um die eigene Vergangenheits- und Gegenwartsbewältigung geht.
Die Handlung spielt sich auf drei verschiedenen Zeitebenen ab: Mexiko 1943, Kindheit im Mainz der Vorkriegszeit und Deutschland während der Naziherrschaft. Diese drei Zeitebenen werden permanent miteinander verwoben und ineinander verschränkt. Fast unmerklich vollzieht sich die imaginäre Reise der Autorin aus dem Mexiko ihrer Gegenwart in das Mainz ihrer Kindheit, zu einem Schulausflug ihrer damaligen Mädchenklasse. Von den elf Mädchen, die an diesem Schulausflug teilnehmen, überlebt nur Netty die Nazizeit – einige von ihnen sterben als Opfer von Verfolgung und Terror durch die Nationalsozialisten, andere führen ein ganz „normales“ Leben oder werden selbst zu Tätern und während der alliierten Bombenangriffe auf Mainz unter ihren Häusern begraben. Die zentrale Frage, die Seghers in dieser Erzählung bewegt, ist, wie es dazu kommen konnte, dass aus dieser fröhlichen Mädchenschar 25 Jahre später Täter auf der einen und Opfer auf der anderen Seite wurden. Sie erörtert diese Frage vor allem anhand von zwei Figuren, Leni und Marianne, in Kindheitstagen unzertrennliche Freundinnen, von denen die eine, Leni, später Kommunistin wird und die andere, Marianne, überzeugte Nationalsozialistin, die ihrer früheren Busenfreundin nicht zur Hilfe kommt, als diese sie braucht.

Wenn Marianne so vorsichtig die Schaukel für Leni festhielt und ihr mit soviel Behutsamkeit die Halme aus dem Haar zupfte und sogar ihren Arm um Lenis Hals schlang, dann konnte sie sich unmöglich mit kalten Worten später schroff weigern, Leni einen Freundschaftsdienst zu tun. Sie konnte unmöglich die Antwort über die Lippen bringen, sie kümmere sich nicht um ein Mädchen, das irgendwann, irgendwo einmal zufällig in ihre Klasse gegangen sei.


Das Motiv des Nichtverstehens, des Fragens nach dem Warum, taucht auch und vor allem im Zusammenhang mit den jüdischen Figuren in Ausflug der toten Mädchen immer wieder auf. Die vier jüdischen Charaktere – Netty, Fräulein Sichel, Nettys Mutter und Sophie Meier – nehmen innerhalb der Erzählung einen bedeutenden Platz ein; alle vier beruhen auf realen Personen.

At the Großherzogliche Studienanstalt, the school in Mainz that Anna Seghers attended from 1917 to 1920, there was a Jewish teacher, Johanna Sichel. Like her fictional counterpart, and the narrator’s mother, she was deported by the Nazis along with one of her ex-students.


Die zentrale Bedeutung dieser jüdischen Charaktere, insbesondere die Bedeutung Fräulein Sichels und der Mutter, wird klar, wenn man sich das eigentliche Anliegen vor Augen führt, das Seghers mit ihrer Erzählung verfolgt.
Zunächst kann die Reise in die Vergangenheit, die hier vollzogen wird, gesehen werden als Versuch einer imaginären Wiederbegegnung mit der Mutter, einer Wiederbegegnung, die in der Realität, wie Seghers wusste, unmöglich geworden war. Auch in Ausflug der toten Mädchen jedoch bleibt Seghers diese Wiederbegegnung verwährt:

Nur kam es mir unerträglich schwer vor, die Treppe hinaufzusteigen. Ich sah bis zum zweiten Stock hinauf, in dem unsere Wohnung lag. Meine Mutter stand schon auf der kleinen, mit Geranienkästen verzierten Veranda über der Straße. Sie wartete schon auf mich. [...]
Ich zwang mich zu meiner Mutter hinauf, die Treppe, vor Dunst unübersehbar, erschien mir unerreichbar hoch, unbezwingbar steil, als steige sie eine Bergwand hinauf. [...] Doch mir versagten die Beine. Ich hatte nur als ganz kleines Kind eine ähnliche Bangnis gespürt, ein Verhängnis könnte mich am Wiedersehen hindern. [...]
Die Stufen waren verschwommen von Dunst, das Treppenhaus weitete sich überall in einer unbezwingbaren Tiefe wie ein Abgrund. [...] Ich dachte noch schwach: Wie schade, ich hätte mich gar zu gern von der Mutter umarmen lassen.


Dass Seghers diesen Versuch eines Wiedersehens der Mutter an das Ende ihrer Reise in die Vergangenheit setzt, macht deutlich, was das eigentliche Ziel dieser Reise war: die Mutter, die in der Realität unerreichbar geworden war, noch einmal in die Arme zu schließen. Dem Motiv der Heimkehr, bereits in Transit eines der zentralen Themen, kommt hier wiederum zentrale Bedeutung zu. Dass jenes In-die-Arme-schließen nicht gelingt, dass der Versuch der imaginären Begegnung scheitert, ist Ausdruck dafür, dass Seghers den Verlust der Mutter als endgültig und unwiderruflich begreift.

Seghers ist bis an die äußerste Grenze des Vorstellbaren gegangen – und hier reißt die Vision ab. In einem Alptraum realisiert sie die Gültigkeit des Todes. Der literarische Abschied scheint nunmehr vollzogen.


Während es hier eher um die persönliche Trauerarbeit der Autorin geht, den Abschied von der eigenen Mutter, weitet Seghers diese Trauerarbeit innerhalb der Erzählung aus auf das Schicksal der Juden im Allgemeinen. Dies wird vor allem deutlich, wenn man die Figur des Fräulein Sichel näher betrachtet.
Zunächst wird die zentrale Frage der Erzählung (Wie konnte das geschehen?) auch im Zusammenhang mit Fräulein Sichel gestellt, die, als überaus beliebte Lehrerin von ihren Schülerinnen umschwärmt, später von eben diesen als Judensau beschimpft werden würde.

Alle übrigen Mädchen an unserem Tisch freuten sich mit Nora über die Nähe der jungen Lehrerin, ohne zu ahnen, daß sie später das Fräulein Sichel bespucken und Judensau verhöhnen würden.


Es ist Fräulein Sichel, die Netty den Auftrag gibt, einen Aufsatz über den Schulausflug zu schreiben, ein Motiv, dass sich durch die gesamte Erzählung zieht und immer verbunden bleibt mit der Person der jüdischen Lehrerin. Seghers sieht es als eine Art „höhere Pflicht“ an, sich „auch die winzigsten Einzelheiten für immer zu merken“, als der Schulausflug beendet ist, wird sie noch einmal von der Lehrerin erinnert, den Aufsatz nicht zu vergessen, und schließlich endet die Erzählung damit, dass die Autorin sich selbst noch einmal diesen Auftrag ins Gedächtnis ruft:

Plötzlich fiel mir der Auftrag meiner Lehrerin wieder ein, den Schulausflug sorgfältig zu beschreiben. Ich wollte gleich morgen oder noch heute abend, wenn meine Müdigkeit vergangen war, die befohlene Aufgabe machen.


Das Schreiben der Erzählung Ausflug der toten Mädchen ist die Erfüllung dieser Aufgabe, dieser „höheren Pflicht“, ein Erinnern an all die jüdischen Opfer des Holocaust, insbesondere an die eigene Mutter. Dass es sich hier um ein Epitaph für die jüdischen Opfer des Naziterrors handelt, wird durch die enge Verknüpfung des Aufsatz-Motivs mit der Figur der jüdischen Lehrerin deutlich. Nicht zuletzt ist es jedoch auch ein jüdisches Motiv, Erinnerungen und Geschichten schriftlich für die Nachwelt festzuhalten, die Gültigkeit des geschriebenen Wortes ist fest in der jüdischen Tradition verankert.
Die jüdischen Figuren in Ausflug der toten Mädchen sind durch ein weiteres Motiv miteinander verknüpft und werden so, im Gegensatz zu allen anderen Figuren, als Gruppe herausgehoben. Bei allen jüdischen Figuren, inklusive der Autorin selbst, wird auf die Veränderung der Haarfarbe eingegangen.

Nicht nur das Haar der Lehrerin, in dem ich auch jetzt wieder verwundert ein Gemisch grauer Strähnen feststellte, auch das Haar der Schülerin Sophie, jetzt noch so schwarz wie Ebenholz, wie das Haar Schneewittchens, sollte über und über weiß sein, als sie zusammen im vollgepferchten plombierten Wagon von den Nazis nach Polen deportiert wurden. [...]
Wie jung sie doch aussah, die Mutter, viel jünger als ich. Wie dunkel ihr glattes Haar war, mit meinem verglichen. Meins wurde ja schon bald grau, während durch ihres noch keine sichtbaren grauen Strähnen liefen.


Die Farbe des Haares, bzw. deren Veränderung, wird immer im Zusammenhang mit dem Holocaust erwähnt – weißes Haar wird zum Symbol für die Opfer des Holocaust, ein Bild, das zuerst bei Paul Celan auftaucht.

The image of shining hair of youth and vigour turned white by excess of suffering has an importance that transcend Seghers’s story. Through the celebrated closing lines of Paul Celan’s “Todesfuge”, “dein goldenes Haar Margarete / dein aschenes Haar Sulamith”, the contrast between golden locks and whitened hair has become one of the poetic symbols of the Jewish catastrophe.



Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die jüdische Dimension der Erzählung Ausflug der toten Mädchen sehr viel klarer erkennbar ist als im Roman Transit. Obwohl Leni und Marianne, zwei nichtjüdische Figuren, zumindest was den Teil der Erzählung, der den Schulausflug beschreibt, betrifft, als Hauptcharaktere gesehen werden müssen, nehmen die jüdischen Figuren eine bedeutende Stellung in Hinsicht auf die Gesamtaussage der Erzählung ein. Seghers hat diese Erzählung geschrieben als Reaktion auf die Deportation und den Tod ihrer Mutter, die ermordet worden war aus dem einzigen Grund, dass sie Jüdin war. Die Erzählung als ganze muss deshalb verstanden werden als Versuch der Autorin, den Tod ihrer Mutter und das Schicksal aller anderen europäischen Juden zu verarbeiten. Die kommunistischen Opfer des Naziterrors werden Seghers deshalb freilich nicht weniger wichtig und finden auch in dieser Erzählung hohe Beachtung. Als Gruppe von Verfolgten und Ermordeten herausgehoben jedoch werden hier die Juden, symbolisiert durch die Haarmetaphorik. Indem sie diese Metapher auch auf sich anwendet, zählt sie sich selbst, wenn auch versteckt, zu dieser Gruppe. Aus diesem Grunde stimme ich Haller-Nevermann nicht zu, wenn sie sagt:

Opfer des totalitären Regimes und dieses Krieges sind – folgt man dem Text – Juden, Antifaschisten und die durch Bombenangriffe ermordete Bevölkerung gleichermaßen. Eine Gewichtung läßt der Text kaum erkennen.


Durch die Charakterisierung der Juden als Gruppe von Verfolgten ist eine Gewichtung durchaus zu erkennen, auch wenn die anderen Opfer ebenfalls Beachtung finden.



4. Post ins Gelobte Land

In einer weiteren Erzählung Anna Seghers‘ werden Juden und Judentum zum zentralen Thema der Handlung. Die Erzählung Post ins Gelobte Land ist 1945 in Mexiko entstanden. Ein letztes Mal setzt sich Seghers hier mit dem Schicksal der Juden und insbesondere mit dem Tod ihrer Mutter auseinander. Danach scheint dieses Thema für sie abgeschlossen, keines ihrer späteren Werke befasst sich noch einmal explizit mit diesem Thema. Post ins Gelobte Land beschreibt die Geschichte einer jüdischen Familie über vier Generationen hinweg. Die Handlung beginnt in den 1890er Jahren in dem polnischen Stetl L., von wo die Familie durch antisemitische Pogrome vertrieben wird. Über Wien und Kattowitze gelangen sie schließlich nach Paris, wo sie sich niederlassen und viele Jahre leben. Dann trennen sich die Wege der einzelnen Familienmitglieder; Nathan Levi, Angehöriger der zweiten Generation, geht nach Palästina, um dort seinen Lebensabend zu verbringen, sein Sohn Jakob bleibt mit Frau und Kind in Paris, wo er einige Jahre später einer schweren Krankheit erliegt. Als die Nazis in Paris einmarschieren, flieht Jakobs Frau mit ihrem Sohn nach Marseille, um von dort Europa mit dem Schiff zu verlassen. Weil der Sohn zu schwach ist, verzögert sich die Abfahrt immer mehr, bis beide von den Nazis gefasst und nach Polen deportiert werden.
Die Geschichte, die hier erzählt wird, ist die Geschichte einer fünfzigjährigen Wanderung. Seghers stellt anhand der jüdischen Familie Grünbaum/Levi das Schicksal des jüdischen Volkes dar – Verfolgung, Vertreibung, Neubeginn in der Fremde, erneute Verfolgung und Vertreibung ¼.
Dies ist das Grundkonzept der Erzählung. Die Autorin verbindet dies mit der Betrachtung verschiedener aktueller Tendenzen innerhalb des Judentums, wie Assimilierung und Zionismuskonzept, und der eigenen Auseinandersetzung mit der jüdischen Tradition. Jüdische Motive sind die tragenden Motive in Post ins Gelobte Land.
Die fortschreitende Assimilierung der Juden beschreibt Seghers vor allem an der dritten und vierten Generation der Familie Levi. Jakob Levi, der auf Drängen des Onkels Salomon Levi auf eine französische Schule geschickt wurde und so die gleiche Ausbildung erhielt wie alle anderen französischen Jungen, entfremdet sich schon früh von den religiösen Vorstellungen seines Vaters.

Der Junge saß während all dem Streit vergnügt kauend am Tisch bei den drei Alten. Sein Vater versuchte manchmal heimlich, sein Haar oder wenigstens seine Hand zu berühren. Der Junge horchte weniger auf die Gespräche, die ihm gleichgültig waren, als auf den Lärm der Straße, bis er den Pfiff des Schulfreundes erkannte.


Die Junge ist begeistert von der Freiheit-Gleichheit-Brüderlichkeit-Vorstellung der Französischen Revolution und feiert wie alle anderen Franzosen am 14. Juli auf den Straßen von Paris. Immer mehr fühlt er sich zugehörig zu diesem Volk, so sehr, dass er 1914 für dieses Land, das seine Heimat geworden ist, in den Krieg zieht.

Er war jetzt mit Leib und Seele, nicht bloß mit der luftigen, ungewissen Seele, dem Volk verpflichtet, dem er sich längst verbunden fühlte, dessen Sprache und dessen Gedanken längst in ihn gedrungen waren, vom Bastillesturz bis zum Dreyfusprozeß.


Der Prozess der Assimilation ist vollends abgeschlossen, als Jakob Levi Arzt wird und nicht mehr Jakob Levi, sondern Doktor Jacques Levi heißt. Sein kleiner Sohn ist bereits nicht mehr von den französischen Kindern zu unterscheiden.

Die Eltern freuten sich, daß ihr Sohn in dem Land aufwachsen konnte, in dem sie erst hatten Wurzeln schlagen müssen, daß er nicht erst in der Schule Französisch lernte, sondern schon vorher so gut wie sein Lehrer sprach. Wenn sie den Jungen vom Fenster riefen, dann freuten sie sich, wenn er mit den Gassenbuben spielte, so daß er gar nicht von dem Knäuel sich balgender Buben zu trennen war, anstatt, wie früher sein Vater, verlegen, in seltsamen Kleidungsstücken aus der Haustür dem Spiel zuzusehen.


Seghers beschreibt diesen Prozess der Assimilierung als etwas sehr Natürliches und Richtiges, warum sollen die Kinder die gleichen Probleme haben wie ihre Eltern, warum sollen sie nicht das Land, in dem sie geboren wurden, auch als ihre Heimat betrachten?
Gleichzeitig jedoch spricht Seghers sehr ernsthaft, manchmal fast zärtlich, von jüdischen Traditionen und Festtagen. Die Darstellung des Sederabends, obwohl sie dazu dient, die immer größer werdende Kluft zwischen Vater und Sohn zu verdeutlichen, wirkt derart liebevoll, als wolle die Autorin selbst durch die Besinnung auf jüdische Traditionen einen Schritt auf ihre Eltern zumachen, deren Lebensauffassung so verschieden war von ihrer eigenen.

Der Vater, am Sederabend auf seinem Ehrenplatz in den roten Kissen, sah zaghaft und kindlich aus, trotz seines Bartes. Er nickte dem Kleinen zu, damit er aufspringe und nach dem Brauch die Tür öffne, denn der Messias konnte in dieser Nacht durch alle Türen in allen Häusern der Welt unversehens eintreten, um sein Volk aus der Verbannung heimzuführen. Ein schwacher Hauch dieses Glaubens, der sich nicht lehren und nicht übertragen läßt, wehte den Jungen bei jedem Türöffnen an, die verstohlene Frage: „Wie, wenn er jetzt bei uns eintritt?“ Obwohl er, der schlauer war als sein Vater, genau wußte, daß sie ganz sinnlos war.


Bevor auf die übrigen Elemente jüdischer Tradition in Post ins Gelobte Land eingegangen wird, soll zunächst eine kurze Erörterung der, in der Erzählung deutlich werdenden, Auffassung der Autorin betreffs des Zionismuskonzepts erfolgen.
Seghers stellt hier zwei verschiedene Zionismuskonzepte dar, eines, das politisch geprägte, wird durch Salomon Levi symbolisiert, das zweite, religiöse, durch dessen Bruder Nathan Levi.

Ein Jude in Wien, der jetzt schon geraume Zeit tot war, war auf den Gedanken gekommen, das Gelobte Land, das Gott versprochen hatte, sofort für das jüdische Volk zu fordern. Es sollte aus allen Ländern der Welt, in denen es verfolgt wurde, in seine Heimat nach Palästina zurückkehren.
Der Bruder Salomon Levi trat heiß für die neue Lehre ein. [...] Der Vater Levi mischte sich nicht ein; er hörte lächelnd zu. Von klein auf war es sein heimlicher Wunsch gewesen, vor seinem Tod mit eigenen Augen das Gelobte Land zu sehen. Doch dieser Wunsch hatte keine politischen Grenzen, er war nur von Gott erfüllbar.


Beide Konzepte scheitern; Salomon Levi stirbt nach der Schiffsüberfahrt in einem Spital in Haifa, sein Bruder Nathan Levi, der viel später nach Palästina übersiedelt, um dort in Frieden zu sterben, bleibt in Gedanken bis zum Schluss im „Land seiner Kinder“.

Er fühlte sich eine Zeitlang ruhiger, wenn ihn die Post über das Wohl der Familie beschwichtigte, die er daheim gelassen hatte. Vor seiner Abfahrt hatte er das Land, in dem er sich jetzt befand, für „Daheim“ gehalten. [...]
Statt Friede im Land seiner Väter zu finden, war er in Gedanken im Land seiner Kinder, in dem es blutig und wild herging. Er malte sich alle Leiden aus, die den Sohn betroffen haben konnten. Es deuchte ihn jetzt, er hätte ihn im Stich gelassen.


Die Tatsache, dass Seghers beide Konzepte scheitern lässt, macht ihre Ablehnung gegenüber jeglichen Zionismusgedanken deutlich. Die Bewertung des Zionismusgedanken wird im Falle Nathan Levis verbunden mit Seghers‘ eigener Trauer um die Mutter, die ebenfalls zurückgeblieben ist in einem Land, in dem die Autorin, selbst sicher in Mexiko, ihr in Gedanken beisteht. Wiederum taucht hier das Motiv des Im-Stich-Lassens auf, das schon in Transit zum zentralen Motiv wurde.
Die tiefe Verbundenheit und Liebe zwischen den Generationen der Familie Grünbaum/Levi, die eine Brücke schlägt über die breite Kluft zwischen assimiliertem und orthodoxem Judentum, wird symbolisiert durch zwei Hauptmotive, die ihren Ursprung tief in der jüdischen Tradition haben – das Motiv der „Post“, das schon durch den Titel der Erzählung als Hauptmotiv gekennzeichnet ist, und das Motiv des Kaddisch, des Totengebets, das sich ebenfalls durch die gesamte Erzählung zieht. Gleichzeitig symbolisieren diese beiden Motive Seghers‘ Umgang mit dem Tod der Mutter; auch Post ins Gelobte Land muss zumindest teilweise verstanden werden als Versuch der Verarbeitung dieses Verlustes.
Wie bereits der Schulaufsatz in Ausflug der toten Mädchen dient hier die Post der Überlieferung und dem Weiterreichen von Erfahrungen in der Schrift, wie bereits erwähnt, ein typisch jüdisches Motiv. Alle Nachrichten, ob schrecklich oder wunderbar, werden in Form von Briefen übermittelt. Salomon Levi nimmt das erste Mal durch Briefe mit seiner Familie in Kattowitze Kontakt auf, durch einen Brief lädt er sie ein, nach Paris zu kommen, durch einen Brief erfährt Nathan von Salomons Tod und schließlich wird durch die Briefe Jakobs an seinen Vater Nathan sogar der Tod überlistet.

Auf literarischem Felde, mit dem Motiv der Briefe, gelingt es der Autorin, die Gesetzte von Leben und Tod außer Kraft zu setzen, geistige und räumliche Distanz zu überbrücken – ihr gelingt etwas, das im Leben selbst nicht mehr gelungen war, nämlich eine tiefgehende Verbindung herzustellen. Es gelingt ihr ein Innehalten, „als sei durch diesen Briefwechsel der Tod selbst überlistet“ [...].


Die schriftliche Überbringung von Nachrichten bürgt für deren Wahrheit, so ist es möglich, dass ein Toter wieder zu Leben erwacht, dass Kommunikation zwischen den Lebenden und den Toten besteht. Die Parallele zu Seghers‘ eigener Situation ist unverkennbar – wissend, dass ihre Mutter in einem Konzentrationslager von den Nazis ermordet wurde, bleibt kein Weg zur Verständigung zwischen beiden, kann sie nichts tun, außer schreibend ihre tiefe Liebe und Zuneigung zur Mutter, über alle ideologischen Differenzen hinweg, zu manifestieren.
Dazu gehört auch, dass Seghers mit Post ins Gelobte Land das Totengebet für ihre Mutter spricht. Das Motiv des Kaddisch zieht sich durch die gesamte Erzählung, immer aber ist es verbunden mit der Frau Nathans, die bereits in den 1890er Jahren während der antisemitischen Pogrome im polnischen L. umkam. Es ist bezeichnend, dass es eine Frau ist, eine Mutter, für die hier gebetet wird – und dass schließlich auch Jakob Levi, ihr Sohn, um die Brücke zu schlagen zum Vater, der körperlich und im Geiste so weit entfernt ist von ihm, „begierig“ auf die Jahrzeitkerze der Mutter hinunter sieht.

„Mein lieber Vater, ich habe in der Nacht geträumt, ich ginge durch die Höfe und Gänge von St. Paul, ich war ein kleiner Junge, ich ging gar nicht an Deiner Hand, sondern an Großvaters Hand. Wir gingen die Wendeltreppe hinauf in den ersten Stock der Synagoge. Die Großmutter zeigte mir von oben herunter die Jahrzeitkerze, die für die Mutter angesteckt wurde. Ich sah auf das Flämmchen begierig hinunter.“


Anna Seghers entzündet hier die Jahrzeitkerze für ihre eigene Mutter, von der auch sie eine große körperliche und geistige Distanz trennen, und sie sieht mit Jakob Levi „begierig auf das Flämmchen hinunter“.
Schließlich wird am Schluss der Erzählung noch einmal das Kaddisch gebetet, noch einmal werden die Kerzen entzündet, sie brennen für die Mutter und für alle anderen ermordeten Juden.

Das Wachhalten der Erinnerung an die Opfer der Pogrome durchzieht die Erzählung. Bemerkenswert ist es, daß Seghers die Kerzen in der Synagoge entzünden Läßt, sie brennen für die Toten. Sie gedenkt der von den Nazis ermordeten Juden in der ihnen angemessenen Form.


Auch Post ins Gelobte Land ist demnach wie Der Ausflug der toten Mädchen als ein Stück Trauerarbeit der Autorin zu lesen. Der ganz persönliche Verlust wird auch hier ausgeweitet auf das Gedenken an die Millionen ermordeter Juden. Dies ist sogar noch deutlicher der Fall als in der Erzählung Der Ausflug der toten Mädchen, da die Juden und das Judentum in Post ins Gelobte Land zum alleinigen Thema der Erzählung gemacht werden. Alle Mitglieder der Familie Grünbaum/Levi sterben im Laufe der Erzählung, die letzten von ihnen im Holocaust.


5. Zusammenfassung

Die exemplarische Untersuchung dieser drei Exilwerke Anna Seghers‘ hat gezeigt, das jüdische Themen in dieser Zeit durchaus eine Rolle für die Autorin spielten. Wie sollten sie das auch nicht angesichts des Schicksals ihrer eigenen Familie. Vergleicht man den Stellenwert, den jüdische Themen und Schicksale in dem Roman Transit, der entstanden ist, bevor Seghers vom Tod ihrer Mutter erfuhr, im Gegensatz zu den beiden späteren Erzählungen haben, so ist festzustellen, dass erst der persönliche Verlust, den die Autorin mit dem Tod der Mutter erlitt, die Auseinandersetzung mit explizit jüdischen Themen veranlasste.
Nichtsdestotrotz fehlen jüdische Figuren und Motive, wie anhand des Romans Transit dargestellt, auch in Seghers‘ anderen Exilwerken nicht, dass sie sie nicht zum Hauptthema ihrer Werke machte, bis sie selbst durch den Tod ihrer Mutter vom Holocaust betroffen war, hat einen einfachen und einleuchtenden Grund: Anna Seghers hat seit ihrer Jugend versucht, sich von den jüdischen, und damit bürgerlichen, Traditionen ihrer Eltern zu lösen. Sie wurde Kommunistin und ihr Hauptanliegen bestand in der Schaffung einer neuen, einer kommunistischen Weltordnung, ab 1933 in der Zerschlagung des Faschismus. Dass sie als Schriftstellerin dieses Anliegen zum zentralen Thema ihrer Romane und Erzählungen machte, ist wenig überraschend. Dass sie jedoch die Verfolgung und den Mord an den europäischen Juden ausgeblendet oder gar verharmlost hat, wie Haller-Nevermann ihr vorwirft, ist, wie diese Arbeit zeigt, nicht wahr.
Es ist richtig, dass jüdische Themen nach der Erzählung Post ins Gelobte Land fast völlig aus Anna Seghers‘ Werk verschwinden. Sie hatte abgeschlossen mit dem Tod ihrer Mutter und auch abgeschlossen mit dem Holocaust. „Denn abgeschlossen ist, was erzählt wird“.


Bibliographie

Argonautenschiff, Jahrbuch der Anna-Seghers-Gesellschaft Berlin und Mainz e.V., Bd. 6, 1997. S. 346-353.

Anthony Grenville, Anna Seghers confronts the Holocaust: The Jewish Dimension to „Ausflug der toten Mädchen“. In: GERMAN MONITOR No. 43, Anna Seghers in Perspective, Ian Wallace (ed.), Amsterdam, Atlanta 1998. S. 117-134.

Haller-Nevermann, Jude und Judentum im Werk Anna Seghers: Untersuchungen zur Bedeutung jüdischer Traditionen und zur Thematisierung des Antisemitismus in den Romanen und Erzählungen von Anna Seghers, Frankfurt/M., 1997.

Anna Seghers, Der Ausflug der toten Mädchen. In: Reise ins Elfte Reich: Erzählungen 1934-1946, Aufbau Taschenbuch Verlag, 1994. S. 194-225.

Anna Seghers, Post ins Gelobte Land. In: Reise ins Elfte Reich: Erzählungen 1934-1946, Aufbau Taschenbuch Verlag, 1994. S. 161-193.

Anna Seghers, Transit, Reclam Leipzig, 1966.

Hans-Albert Walter, Anna Seghers. In: Hans Jürgen Schulz (Hg), Es ist ein Weinen in der Welt, Hommage für deutsche Juden unseres Jahrhunderts, Quell, 1990. S. 407-430.



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